Bewegende Begegnung mit Holocaust-Überlebender
Irene Butter – Wie sie mit der Erinnerung umgeht und sich gegen das Vergessen engagiert.
Irene Butter – auf den ersten Blick eine aufgeweckte Seniorin aus den USA, die eine Professorinnenkarriere an der Universität hinter sich hat und Pflaumenkuchen liebt. Jedoch ist der Grund, warum die Vierundneunzigjährige im hohen Alter immer noch Langstreckenflüge antritt, um in Schulen und auf Veranstaltungen in Deutschland zu sprechen, ein ganz anderer:
Sie hat den Holocaust, also den Massenmord der Nationalsozialisten an fast 6 Millionen europäischen Juden, der bis zum Ende des 2. Weltkriegs (1945) andauerte, miterlebt und überlebt. Sie war schon als Heranwachsende ganz nah dran, am Leid, an der Verfolgung und am Tod.
Lange schwieg Irene, bis ihre Nachkommen eines Tages nach ihrer Geschichte fragten. Mit Anfang vierzig fing sie an, doch über ihr Schicksal zu sprechen, überall die Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland, die sie nie wieder vergessen wird.
Mittlerweile hat die gebürtige Berlinerin Schriften, Filme und Podcasts mitgestaltet, Letzteres sogar während der Pandemie als Zeitzeugenprojekt mit vier Oberstufenschülerinnen des HLG und in Zusammenarbeit mit dem NDR („Irene, wie hast du den Holocaust überlebt?“).
Für ihr Engagement wurde Irene Butter schon mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (2024). Während ihres Aufenthalts in Deutschland im April und Mai dieses Jahres hatte unsere Gruppe von SuS des 10. Jahrgangs des HLG um Schulleiter Holger Müller die einmalige Chance, Irene Butter live im Zeise-Kino zu erleben.
Die Veranstaltung war rundherum beeindruckend und bewegend, besonders für das mehrheitlich junge Publikum, das aus verschiedenen Schulen angereist war. Irene Butter fing an, ihre Geschichte zu erzählen, angefangen bei ihrer Kindheit.
1930 kommt sie als Irene Hasenberg in Berlin auf die Welt und wächst dort zusammen mit dem zwei Jahre älteren Bruder, den Eltern und den Großeltern auf. Kurz nach Irenes siebtem Geburtstag jedoch muss die Familie nach Amsterdam fliehen, wo die Freiheit der jüdischen Bevölkerung aber auch immer weiter eingeschränkt wird. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch werden die Hasenbergs im Juni 1943 in Viehwagen ins Aufenthaltslager Westerbork in den Niederlanden transportiert und von dort aus Anfang 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert.
Hier herrschen grausame Lebensbedingungen für die insgesamt 120.000 Menschen, die von 1943-1945 in dem Lager untergebracht waren: Die Hygiene ist schrecklich, weswegen auch Irenes Eltern sehr krank werden; es mangelt an Essen und die Bewohner des KZ müssen viele Stunden am Tag arbeiten. Die dreizehnjährige Irene muss putzen und auf die kleineren Kinder aufpassen.
Auf Nachfragen des NDR und der anwesenden Schüler/innen beschreibt Irene die Zustände und Tagesabläufe im Lager, in das sie vor mehr als 80 Jahren deportiert wurde, äußerst lebhaft und detailreich und ohne auch nur ein einziges Mal zu zögern. Es wird schnell klar, wie tief diese Eindrücke sitzen und es hat mich zutiefst ergriken, dass Irene diese Bilder immer noch glasklar vor ihrem inneren Auge sieht, so fürchterlich die Umstände und so groß das Verderben überall. Es brauchte lange, diese Erinnerungen, die für immer ein Teil von ihr sein werden, zu verarbeiten, verrät Irene.
Wie durch ein Wunder gelingt es Irenes Familie schließlich im Zuge eines Austausches mit Deutschen aus Südamerika im Januar 1945, das Lager zu verlassen. Auf der Zugfahrt in die Schweiz allerdings verliert Irene ihren Vater, der zu diesem Zeitpunkt schwer krank ist.
Da auch die Mutter und der Bruder äußerst geschwächt sind und deshalb in der Schweiz bleiben müssen, kommt sie allein in ein Lager in Algerien, wo sie erst einmal nichts von ihrer Familie hört und komplett auf sich allein gestellt ist.
Es hat mich sehr bewegt, wie Irene unter diesen Umständen nie den Willen verlor, zu leben und weiterzumachen. Egal ob zwischen Krankheit und Tod im Konzentrationslager oder isoliert von der Familie in einem fremden Land auf sich allein gestellt.
Auf eine Frage im Kolloquium okenbart sie, dass ihre Kindheit, ein Fenster in Zeiten der Unbeschwertheit, ihr bestätigt habe, dass das Leben nicht nur Angst, Leid und Verzweiflung ist, sondern viel mehr sein kann. Dieses Vertrauen in das Gute war Antrieb genug für Irene.
Als ihre Verwandten sie dann im Dezember 1945 in die USA holten und sie in New York City endlich wieder zur Schule gehen konnte, ging es dann auch tatsächlich bergauf für die mittlerweile Fünfzehnjährige.
Nach Absolvierung von High School, College und dann auch Universität (Studiengang Ökonomie) wird sie schließlich als einzige Frau in der Fakultät Professorin an der University of Michigan.
Außerdem lernt sie ihren späteren Mann kennen, Charlie Butter, mit dem sie zwei Kinder bekommen wird. Aber hier endet Irene Butters Geschichte keinesfalls; außerhalb von Job und Familie engagiert sie sich weiter rege für die Zusammenarbeit und den Austausch der Menschen, wie z. B. in einer Gruppe aus palästinensisch-jüdischen Frauen, die sie vor mehr als zwei Jahrzehnten in ihrer Heimat Ann Arbor in Michigan ins Leben rief.
Des Weiteren kämpft sie permanent dagegen, dass wir unsere Geschichte vergessen, mit all ihrem Leid und Verderben und all den Taten und Ereignissen, die dies auslösten. Besonders bemerkenswert finde ich unter anderem, wie Irene Butter sich mit ihrer eigenen Geschichte und all ihren schrecklichen Erlebnissen auseinandersetzt.
1991 besuchte die damals Sechzigjährige mit ihrer Familie und der Familie ihres Bruders die Gedenkstätte des früheren Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Bestimmt hätte sie als junges Mädchen nicht im Traum daran gedacht, dass sie irgendwann noch einmal einen Fuß an diesen Ort setzen würde; und doch tat sie dies, im Kampf gegen das Vergessen und auch, um sich ganz bewusst mit ihren eigenen Erinnerungen auseinanderzusetzen und ihren Kindern einen Blick in ihre eigene Kindheit zu ermöglichen. Sie stellt fest, dass man die Vergangenheit nicht vergessen kann, aber dass es trotzdem möglich ist, ein glückliches Leben zu führen, wenn man nicht permanent in der Erinnerung lebt.
Irene Butter appelliert immer wieder, wie wichtig Werte wie Mitgefühl und Empathie sind, früher wie heute, damit wir unsere Menschlichkeit nicht verlieren und die Welt zu einer besseren machen. Denn, wie auch die zweite von Irenes drei Botschaften vermittelt, welche sie am Ende ihres Auftritts formuliert: „One person can make a dikerence!“. Dafür ist Irene Butter meiner Meinung nach ein Paradebeispiel, weil sie mit ihrem Engagement Menschen auf der ganzen Welt informiert, bewegt und aufrüttelt. Außerdem ist es Irene sehr wichtig, dass wir uns weigern, Feinde zu sein („Refusing to be enemies“), denn das, was uns verbindet, ist so viel größer als das, was uns trennt und obwohl alle Menschen unterschiedlich sind, haben doch alle die Fähigkeit, Gutes zu tun.
Irenes letzte Botschaft, die sie wie ihren gesamten Vortrag in nahezu lupenreinem Deutsch über die Bühne bringt, hält uns alle an, niemals ein Mitläufer zu sein („Never be a bystander!“) und bewusst auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten.
Ich selbst bin sehr froh, dieser Frau und ihrer Geschichte auf diese Art und Weise begegnet zu sein. Insbesondere wenn man Irene in die Augen schaut, während sie Station für Station ihrer Kindheit beschreibt, ist man von der Schwere des Erlebten aber auch von der Stärke, die Irene bewies, als sie begann, ihre Geschichte zu erzählen und die Erinnerungen zu verarbeiten, zutiefst bewegt.
Außerdem bin ich überzeugt, dass Irenes innere Einstellung und ihre drei klar formulierten Botschaften etwas sind, was sich jede und jeder von uns zu Herzen nehmen kann, wenn auch nur durch ganz kleine Taten und Worte, die doch am Ende einen Unterschied machen!
Elisa Charlotte, 10b





