Zwanzigjähriges Abitur
Zugegeben, ich war überrascht, gleich zwei Einladungen zur Feier des Abiturjahrgangs 2003 zu erhalten. Eine ehemalige Schülerin und ein ehemaliger Schüler aus meinem Erdkunde-Grundkurs, den ich im Sommer 2001 bei meinem Dienstantritt als damals noch „Oberstufenkoordinator“ am Helene-Lange-Gymnasium übernommen und nach zwei Jahren zum Abitur geführt hatte, welches sich nun zum 20. Mal jährte, schickten mir Mails an meine Dienstadresse. Wie schön!
Ich hatte noch gute Erinnerungen an den Kurs, waren wir doch im 2. Semester auf stadtgeographischer Studienreise in Prag gewesen und hatten schließlich Ende von S4 eine Abschlussfahrt auf einem Plattbodenschiff im niederländischen Wattenmeer durchgeführt. Damals gab es noch keinen Fahrtenerlass mit Kostenhöchstsätzen, da war das alles noch möglich.
Ich war nun natürlich gespannt: Wie hatten sich die ehemaligen Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs, den ich erstmals am Eimsbütteler Modell als jahrgangsbegleitender Koordinator zum Abitur geführt hatte, verändert? Wen würde ich erkennen? Welche Namen fielen mir spontan ein? Könnte ich Gesichter und Namen richtig zuordnen?
In der „Ersten Liebe Bar“ fand sich ein Drittel des Jahrgangs zusammen. Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die noch am EM waren (eine Handvoll) und einige Ehemalige, die ich alle informieren sollte, waren jeweils verhindert, so dass ich der einzig Anwesende der ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer war. Es war ein herzliches Wiedersehen! Einige erkannte ich sofort, auch mit Namen. Einige hatten sich wirklich kaum verändert, auch vom Wesen her nicht – nach 20 Jahren! Mir wurde bewusst, dass ich mir einprägsame Gesichter besonders gut erinnerte – gar nicht einmal die dazugehörenden Namen. Es waren auch nicht notwendigerweise ehemalige Schülerinnen und Schüler, die ich selbst im Unterricht hatte oder die vom HLG kamen. Viele der erzählten Geschichten erinnerte ich, an einige wurde ich erinnert. Andere Begebenheiten hatte ich komplett vergessen: In der mündlichen Abiturprüfung in Deutsch hatte ich angeblich einen Schüler gerettet… Ah ja… Ich erinnerte nichts. Endgültig beginnende Vergreisung an der Schwelle zum 60. Geburtstag? Es ist schon merkwürdig, wie das Gedächtnis funktioniert, woran man sich erinnert – und woran eben nicht.
Interessant waren natürlich auch die individuellen Lebenswege, die eingeschlagen worden waren. Hier gab es durchaus sehr positive Überraschungen, die mich in meiner Grundüberzeugung nur bestärkten: Ein schlechtes Abitur bedeutet keinesfalls, dass man nicht doch eine große Karriere machen kann – wie eben auch umgekehrt ein sehr gutes Abitur nicht zwangsläufig etwas über den künftigen beruflichen Erfolg aussagt. Was mich nachdenklich machte: Auch in dieser Generation waren Kinder oftmals ein Hinderungsgrund für die ganz große Karriere – bei Frauen. Wird das beim Abitur 2023 anders sein?
Wir zogen noch weiter und der Abend endete am frühen Morgen, bis jeder und jede beschwingt von dannen zog. Ja, 20 Jahre sind wohl ein Zeithorizont, ab dem auch die rückwärtige Verklärung einzusetzen scheint. Egal – ich fand es schön!
Dr. Stephan Mattlinger