Geschichtsunterricht einmal nicht aus der Vogelflugperspektive – der DDR-Zeitzeugentag 2017

„Geschichtsunterricht findet oft aus der Vogelflugperspektive statt. Wir fliegen hoch über den Ereignissen und kommen dadurch schnell zu zynischen Urteilen, fragen: `Warum haben die das gemacht`, oder sagen: ´Die hätten das wie folgt machen müssen!` Doch manchmal muss man in den Gleitflug gehen und landen, um Geschichte aus einer anderen, näheren Perspektive zu erleben und nachvollziehen zu können. So wie heute.”

Mit diesen Worten leitete Herr Müller den DDR-Zeitzeugentag in unserer Schule ein und begrüßte die sieben Zeitzeug/innen, deren Lebensläufe mit der DDR verwoben und von ihr maßgeblich beeinflusst wurden. Sie alle haben sich bereit erklärt, dem 10. Jahrgang einen Einblick zu gewähren.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde hatten wir die Möglichkeit, in klassenübergreifenden Kleingruppen mit zwei Zeitzeug/innen jeweils 45 Minuten in den Dialog zu gehen. In Vorbereitung darauf haben wir die Dokumentation “Es war nicht alles schlecht” gesehen, die das Augenmerk auf das alltägliche Leben legte, und auf der Basis unseres dort erworbenen Wissens im Vorfeld Fragen überlegt. Tatsächlich sind wir nicht dazu gekommen, auch nur annähernd alle Fragen zu stellen, da die individuellen Schicksale so reichhaltig an Erfahrungen und Eindrücken waren, dass jedenfalls für uns die Zeit verflog, und wir eigentlich ein Vielfaches der Zeit benötigt hätten, um alle für uns interessanten Fragen beantwortet zu bekommen.

Wir hatten das große Glück, zwei sehr unterschiedliche Schicksale kennen lernen zu dürfen: eines von dem Sohn eines Staatssekretärs, der sowohl bei den Pionieren als Vertreter seiner Schule sogar internationale Pioniertreffen besuchte, als auch bei der FDJ, der freien deutschen Jugend, war. Von ihm erfuhren wir, wie das Leben war, wenn man sich anpasste, denn selbstverständlich hatte auch er kritische Gedanken, äußerte diese aber nie öffentlich oder machte sie anderweitig deutlich. Auf Grund dessen, seiner Parteimitgliedschaft und der Stellung seines Vaters, durfte er sogar 1986 für drei Wochen Frankreich im Rahmen seines Französischstudiums besuchen, unter sehr lockeren Sicherheitsverhältnissen. Trotzdem wurde auch er in der Schule beiseite genommen, wenn er Westprodukte mitbrachte, was uns deutlich machte, wie stark die Reglementierung und das Misstrauen selbst gegenüber „braven” Bürger/innen war. Der Dialog gab uns einen wertvollen Einblick in den Alltag und die Lebensweise eines gut gestellten DDR-Bürgers. Das genaue Gegenteil davon erlebte der zweite Zeitzeuge, mit dem wir sprachen. Im Gegensatz zu dem ersten Gespräch, bei dem wir Fragen stellten, und er darauf antwortete, erzählte uns dieser von seinem Leben als „Staatsgegner” und beantwortete alle Fragen, die während des Berichts aufkamen. Besonders schockierend war für uns die Beschreibung, wofür man schon auf die Liste der „Staatsgegner“ kam. Auf einen einfachen Auswanderungsantrag hin, in dem er sich auf ein von der DDR unterzeichneten Vertrag zur Sicherung der demokratischen Rechte berief, folgte nämlich ein erstes Gespräch mit der Stasi, die ihm von weiteren Anträgen „abriet”. Nach einem weiteren Antrag und dem Aufhängen von Zetteln mit Forderungen nach dem Erhalt demokratischer Werte in der ganzen Welt wurde er auf Grundlage eines völlig unzureichenden Geständnisses zu 9 Monaten Haft verurteilt. Nach 168 Verstößen gegen die auf die Haft folgenden Auflagen, die ihn unter anderem von Jugendlichen fernhalten sollten, damit er seine Ansichten nicht mit ihnen teilen konnte, wurde er erneut zu 15 Monaten Arbeitslager verurteilt, woraus er dann schließlich nach 14 Monaten von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“ wurde.

In dem Gespräch mit diesem Zeitzeugen wurde uns erschreckend deutlich, wie intransparent und gerechtigkeitsfern die Strafverfolgung in der DDR und wie präsent die Staatssicherheit war. Selbstverständlich waren nicht alle Schüler/innen aktiv und interessiert bei der Sache, da Interesse eben unterschiedlich gelagert ist, allerdings waren wir positiv überrascht, wie respektvoll sich die Schüler/innen den Zeitzeug/innen gegenüber verhalten haben, was wir leider auch schon anders erleben mussten. Als UNESCO-Beauftragte unserer Klasse repräsentierten wir zusammen mit zwei anderen UNESCO-Beauftragten die Schülerschaft im anschließenden Reflektionsgespräch mit der Schulleitung, den Zeitzeug/innen und der Fachleitung History. Dabei kristallisierte sich heraus, wie beeindruckend genau die Metapher von Herrn Müller war, noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass dies auch sein erster Zeitzeugentag an unserer Schule war. Mit großer Freude hörten wir, dass sich die Zeitzeugen wohl und respektiert fühlten, und froh waren, einen Teil Geschichte an uns weitergeben zu können. Ebenso wurde uns noch einmal verdeutlicht, wie froh wir über unsere derzeitige politische Form sein können. Besonders freute uns, dass zwei der Zeitzeug/innen auf Englisch mit amerikanischen Austauschschüler/innen, die uns gerade aus Chicago besuchten, gesprochen hatten, da dies für beide Seiten eine einmalige Gelegenheit war.

Wir sind für 90 Minuten gelandet, haben uns auf den Boden der Geschichte begeben, und, um es mit den Worten des Zeitzeugen zu sagen, der zum ersten Mal an der Veranstaltung teilnahm,

„Geschichte nicht nur gelernt, sondern erlebt”.

Wir danken den Zeitzeug/innen für diese einmalige Gelegenheit und hoffen, dass noch viele Schüler/innen nach uns die Möglichkeit dazu bekommen.

Don Duve und Tim Maier (10. Klasse/jetzt S1)

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